Filzen

Ich war mal ein Filzer.

Darauf bin ich heute noch stolz.

Was macht ein Filzer?

Heute könnte ich diese Frage beantworten.

Danach fragt mich aber kein Mensch.

Also muss ich ein wenig angeben.

Was ist Filz? Kann man Filz vorgefertigt kaufen? Aber wo? Und viel wichtiger: Warum? Er sieht beulig und uncool aus

Filz hatte in meinen Augen bisher keine Daseinsberechtigung. Ich weiß nur so viel: Filz ist irgendein Gewebe, das auf Weihnachtsmärkten feilgeboten wurde. An Ständen hingen unförmige Beutel aus Filz, die wie warme Semmeln weggingen.

Warum? Weil ein Plakat darauf hinwies: „Ihr könnt alle etwas für die Umwelt tun, indem ihr keine Plastiktüten mehr verwendet. Nehmt dafür Filz. Filz ist ein Naturprodukt, das sogar die Vögel zum Nestbau verwenden. Wenn euch die bunten Filzbeutel gefallen, sagt es weiter!“

In der TV-Werbung wurde ich durch eine glückliche Familie beim Frühstück auf Filz

aufmerksam. Auf dem Frühstückstisch sah ich Filzuntersetzer, Filzbrotkörbe und winzig kleine Filzhüte für Frühstückseier. Für Eier? Eier brauchen doch gar keine Hüte! So ein Unsinn! Mütter setzen in der Weihnachtszeit Elfen aus Filz mit absurd langen Gliedmaßen auf die Fensterbänke. Warum? Ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich eine Modeerscheinung.

Meine Filzlehrerin Iwona hatte feuerrote Haare, ein Piercing in der rechten Augenbraue und einen süßen kleinen Ring unter ihren Nasenflügeln. Sie trug ein Kleid aus Filz und ihre Unterarme wärmte sie mit Stulpen aus Filz. Sie stammte aus Polen und sprach mit einem wundervollen deutschen Akzent.

Ihre Füße, sagte sie, hielte sie sie mit Filzpantoffeln warm. Ilona filzt seit 19 Jahren.

In der Reha-Klinik musste ich mich für eine Pflicht-Therapie entscheiden. Vielleicht war es Iwona, die mich in ihren Bann zog.

Die Hände nach der Halswirbelsäulen-OP wieder bewegen, Gefühl in den Fingern haben, darum ging es bei der Therapie mit Ilona.

Ursprünglich hatte ich die Auswahl zwischen Speckstein, der zu Fantasieformen zu bearbeiten war, dem Malen, wobei nach abstrakter Malerei gefragt war, und dem Herstellen von Marionettenpuppen mit Holz- oder Pkastikskelett und anschließendem Anpassen von Dekostoffen. Das wären die vier Auswahl-Alternativen gewesen, Ich hatte mich fürs Filzen entschieden

„Sie haben doch wohl alle einmal einen Wollpullover in der Waschmaschine verfilzt .“ lächelte sie uns Filzschüler und Filzschülerinnen gewinnend an, wobei die weiblichen Teilnehmer bei zwei Männern in der Überzahl waren. „Beim Filzen schrumpft man Wolle mithilfe von Seife und warmem Wasser zusammen. Genau das machen wir heute. Wir sind quasi die Waschmaschine.“

Wir brauchen dazu einen Mann, der das besorgt!“ und deutete dabei auf mich.

Ich nickte und erwiderte „Richtig! Ich bin der Mann für das Grobe!“

Danach begann sie mit ihrer Lehrübung:

„In unserer ersten Filzübung erschaffen wir eine Blume. Wir beginnen mit dem Stiel. Ich zupfe ein wenig Wolle aus einem grünen Wollknäuel, tunke den Fetzen in warmes Seifenwasser und beginne, das suppige Schafshaar zwischen meinen Handflächen zu einer dünnen Wurst zu formen. Auf den fertigen Stiel pappe ich weiße Wollbüschel und drapiere sie blütenförmig zusammen.“

Ich spürte, wie ich mich immer wieder dazu zwingen musste, meine Zunge im Mund zu behalten. Mein Gehirn schien sich unter der kreativen Anstrengung zu dem eines kleinen Schulkindes zurückzuentwickeln. Auch rechts und links von mir schlängelten sich Zungen aus Mündern. Hier beim Filzen waren wir anscheinend alle gleich. Meine Filzablehnung bezog sich vor allem auf die Menschen, die Filz mochten. Ich sah sie zunächst als „weltfremd im übertriebenen grünen Bereich“ an.

Bei der zweiten Blüte kam ich Filzschüler an meine Grenzen. Wie viel Wolle für ein Blütenblatt? Iwona spürte meine Unsicherheit sofort und fand die richtigen Worte: „Ihr habt euch in so einer kurzen Zeit schon extrem verbessert. Und vergesst nicht: Wenn Kinder mit dem Lesen anfangen, brauchen sie auch erst mal ein bisschen Zeit, um die Buchstaben zu erkennen. So ist das beim Filzen auch. Aber ihr macht das super.“ Ilonas Worte halfen. Nach etwa einer Stunde hatten jede Filzerin und wir zwei männlichen Filzer eine Blume vor sich liegen.

Die Frauen zeigten ihre „Frühlingsträume“ mit nicht geringem Stolz. Meine Blume dagegen sah aus wie eine abgestürzte Drohne.

Iwona half. Bei ihr sah alles einfach aus. Das hatte mir ein falsches Selbstvertrauen eingehaucht. „Eines Tages kann es sein, dass du einen Hut herstellst! Dann willst du vom Filz nicht mehr weg!“. hauchte sie mir plötzlich duzend ins Ohr“, und zupfte so lange an meinem missratenem Objekt, bis sie mein handwerklich stressigstes Modell meines bisherigen Lebens hochhob und rief:

„Hat er das nicht schön gemacht?“.

Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich mich am nächsten Tag vor die unlösbare Aufgabe gestellt sah, einen Hut aus Filz fertigen zu sollen. Rupfen, legen, einseifen, bewässern, rollen, kneten,

ich durfte an nichts anderes mehr denken.

Ein Wendehut zum Stülpen sollte es werden.

Iwona hatte natürlich schon ungefähr tausend Hüte gefilzt und überreichte mir feierlich eine Schablone für meinen Hut. Auf diese Schablone legte sie die Wollfetzen, die ich vorher aus Knäueln gerupft habe. Die voll gewollte Schablone sah absurd riesig aus. Klar, die Wolle musste ja auch noch einschrumpfen. Allein das Rupfen und Legen dauerte bei mir über eine Stunde.

Am Ende des Tages hatte ich diesen werdenden Hut über fünf Stunden lang mit Kernseifenlauge durchgeknetet.

Die Arbeit musste ich notgedrungen in „homeoffice“ mit aufs Zimmer nehmen.

Wie mühsam müssen Hutzupfer und .-kneter ihr Geld verdienen, dachte ich so bei mir, und schlief mit dem Hut in der Hand erschöpft ein. Das Abendessen fiel natürlich flach.

Wie bei der Frühlingstraumblume beseifte und bewässerte ich weiter die Wolle nach dem Legen. „Jetzt musst du die Wolle nur noch hin- und herrollen, damit alles schön verfilzt“, sprach lwona

mir Mut zu.

Es folgte ein Todeskampf, den ich am Ende nur knapp gewann. Ich rollte und knetete und rollte und knetete. Der Hut wurde und wurde einfach nicht kleiner. Vor mir lag ein riesiger Fladen aus Wollfetzen und Seifenwasser. Ein riesiger Klops, den ich doch sowieso niemals auf meinen Kopf setzen würde. Es sei denn, ich wollte mich irgendwann einmal selbst ersticken, in dem Fall wäre der sogenannte Hut wohl doch ganz praktisch gewesen.

Irgendwann platzte mir die Hutschnur und ich sagte Iwona, dass ich keinen Bock mehr auf Hüte hätte. Ich konnte nicht mehr. Es reichte jetzt auch!

Meine geduldige Lehrerin schien meine Unlust zu spüren und übernahm die Kneterei für mich. Das half. So langsam zog sich der Riesenhut zusammen und wurde fest. Nach noch einmal einer Stunde Kneterei war der Hut so sehr zusammengeschrumpft, dass er einem Menschen mit einem sehr großen Kopf gepasst hätte. Heute gab sie mir frei! „Das sind normale Bewährungssymptome!“

Sie streichelte mich. „Helmut, du darfst am nächsten Tag weiter kneten und für heute Schluss machen.

Mein Wochenende plätscherte dahin, wie das Seifenwasser auf meinen Stülphut.

Ich ruhte mich einfach nur vom Kneten aus, las ein bisschen und hörte Musik.

Meine Finger konnte ich wieder bewegen, ich hatte etwas erschafft, und war insgesamt zufrieden.

Dieses Gefühl hatte ich Iwona und dem Hut zu verdanken.

Gleich nach meiner Entlassung aus de Klinik war ich eingeladen.

Selten hat mich eine Gesellschaft so sehr gelangweilt.

Ich sehnte mich nach Ilonas Hutwerkstatt zurück.

Als der Gastgeber mich fragte, ob ich später noch mit den anderen an der Podiumsdiskussion teilnehmen werde, antwortete ich pflichtbewusst: „Ich kann heute nicht lange bleiben, morgen muss ich wieder filzen.“ Er sah mich an wie eine Kuh, wenn’s donnert! Seine Unwissenheit klärte ich nicht auf. Ich wollte nur noch nach Hause. Zu meinem Hut, der noch etliche Fragende vor ihre Unwissenheit stellen wird und nach Kernseife riecht, wenn gefragt wird: „Wo hast du bloß diesen komischen Hut aufgegabelt?“

Heute bin ich beseelt vom Filzen und lasse im übrigen den Hut Hut sein. Nach diesen anstrengenden Wendehut-Erlebnissen bin ich jetzt ein stolzer Filzprofi. Braucht jemand ein Haus aus Filz? Schreibt mir einfach. Knete ich euch.

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