Wo läuft sie hin, die Zeit?

„Kommt Zeit, kommt Rat!“
Mit diesem Spruch konnte ich nie etwas anfangen.
Eher mit dem Witz: Weshalb muss man beim Arzt immer so lange warten?
Zeit heilt alle Wunden.

Die Zeit: ein Phänomen zum Gänsehautkriegen.
Mich faszinierten stets SF-Filme oder -Romane, in denen man in die Zeit reist oder gar unsterblich wird. Graham Greene, Hans Dominik, H.G. Wells („Die Zeitmaschine“), Jean Paul Sartre („Das Spiel ist aus“) ,Isaak Asimov, Stanley Kubrik und andere ließen uns in der Literatur und im Film durch das Zeittor oder den timetunnel gehen.

Wer kennt ihn nicht, den Wunsch, dass der Tag mehr als 24 Stunden und die Woche mehr als sieben Tage haben sollte?
Enkelin Jasmin rief mich an und teilte mir ihren Kummer mit: „Mein zehnter Geburtstag war soooo schön! Warum musste der denn nun so schnell zu Ende sein?“

Es sei ausnahmsweise mal der Vergleich des Geldes mit der Zeit erlaubt:

Nicht der Spruch „Zeit ist Geld“, den man heute kaum noch hört, sondern
„Die Zeit zerrinnt mir förmlich zwischen den Fingern!“hörte ich häufig. Keiner kommt mit seiner Zeit aus.

„Wie war das Wochenende?“ fragte mich meine Tochter. Ich antwortete: „Welches Wochenende?“

Von denen, die am meisten Geld verdienen, wie Ärzte, Professoren, Manager, erfahre ich häufig,
das Geld reiche von vorne bis hinten nicht.

Genau so ähnlich verhält es sich mit der Zeit: „Keine Zeit, ich muss noch dieses, muss noch jenes
erledigen, muss unbedingt noch dahin und dorthin. Wie schaffe ich das alles bloß?“ ist häufig zu hören.
Dabei bringen viele Leute das Kunststück fertig, sich selbst Stress zu machen und sich  ständig unter Druck zu setzen.

Im Takt der elektronischen Kommunikation hetzen alle von einem Termin zum nächsten oder
schreiben E-Mails, während sie telefonieren und dabei noch einen Schluck Kaffee nehmen.
Da bleibt keine Zeit mehr für schöne Gespräche für Freunde und die Familie.
Doch wo ist sie hin, die unerbittliche, nicht eine Sekunde anhalten könnende Zeit, die doch beständig durch effizienteres Arbeiten, bessere Maschinen und neue Technologien der Mikroelektronik eingespart wird?
Wie kommt das, dass wir immer weniger Zeit haben?
Die Ursache liegt darin, dass wir  immer mehr Möglichkeiten haben.
Wir steigern, steigern und steigern: Effizienz , Leistung, Geschwindigkeit und  Gewinn.
Unser Anspruchsdenken schraubt sich durch immer mehr werdende Überangebote in schwindelerregende Höhen.Immer mehr Freizeitangebote wie zum Beispiel den Besuch in Fitnessstudios nehmen wir wahr. Die Kinder werden durch ihre Eltern dazu getrimmt,  zu reiten, Tennis und Klavier zu spielen und sich in Karate oder einer  Teakwondo-Art zu stählen. Da bleibt keine Zeit mehr zum Spielen.

Die Werbung vermittelt uns  Wünsche, die nicht nur Geld und Zeit kosten,
die wir ohne sie gar nicht hätten, weil sie ja ohne die Werbung in uns nicht geweckt würden.
Wir haben alle keine Zeit mehr, weil die Maschinen rund um die Uhr laufen, weil das Internet rund um die Uhr läuft
Diese Rekord-Geschwindigkeiten lasten uns immer mehr Entscheidungen auf.

Warum sagen wir nicht einfach: „Ich nehm’s so, wie es kommt“.
Weshalb haben wir nicht den Mut zu sagen: „Dieser Rummel geht mir voll am Gesäß vorbei!“
Keiner würde uns verstehen.
Keiner käme auf die Idee, Goethes immer tätigen Worcaholic Faust zu zitieren:

„ In diesem Augenblicke dürft‘ ich sagen,
verweile doch, du bist so schön,
es kann die Spur von Erdentagen
nicht in Äonen untergeh’n.

Am Ende unseres Lebens fragen sich alle: „Wo ist bloß die Zeit geblieben?“

Um mit Laotse zu sprechen:
„Der Weg zum Glück ist, wieder über seine eigene Zeit bestimmen zu können.“

Eine Schlagersängerin hatte einmal den Mut zu singen:

„Halt‘ die Welt an,
stoppt die Zeiger der Uhren…“

Habt endlich einmal Zeit für euch, meinte sie damit.

„Ein Mensch bemerkt mit leisem Schreck:
Schon wieder ist ein Jährlein weg!“
Ein and’rer Mensch, mit Seelenruh‘
sagt sich: „Ein Jährlein kam dazu.“     dichtete Eugen Roth.

Am Ende unseres Lebens fragen sich alle: „Wo ist bloß die Zeit geblieben?“
Wenn es nicht das Buch und den Film „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gäbe,
so hätte ich wohl den Titel  heute prägen können.

Und um noch einmal auf meine zehnjährige Enkelin zu kommen:
„Warum haltet ihr nicht einfach die Uhr an?“
„Das geht leider nicht, Jasmin, dann gehen ja alle Uhren in der Welt trotzdem weiter!“
„Dann sollen alle diese Uhren abgestellt werden, und dann kann die Zeit nicht weiterlaufen!“

„O selig, o selig, ein Kind noch zu sein…“ heißt es in einem alten Lied.

Heute haben es aber die Kinder ebenso schwer wie die Erwachsenen. Sie sind in die  Werte-Vorstellungen, Normen und Erwartungen der Gesellschaft in den modernen Industriestaaten
nach westlichem Muster eingebunden.

Ein bisschen tröstet mich der Lebensweisheit-Vierzeiler von Wilhelm Busch,
dass von uns allen keiner weiß, was die Zukunft bringen wird.
Busch dichtete  in einer Zeit, als es noch keinen „Generationenvertrag“ und keine Rentenversicherung gab und die ältere Generation von der jüngeren  innerhalb der Familie mitgetragen wurde, so wie es heute noch zum Beispiel in den meisten arabischen Ländern der Fall ist:

„So ist nun mal die Zeit allhie,
erst trägt sie dich, dann trägst du sie,
und wann’s vorüber,
weißt du nie.“

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